Verein der Freunde der

Heckeshorner Kooperationen

Nikolaus Konietzko

Was macht die Attraktion von Heckeshorn für die Pneumologie aus?

Nikolaus Konietzko Nikolaus Konietzko
(Quelle: ASKLEPIOS Fachkliniken München-Gauting)

Prolog
Es war im Herbst 1974, ich hatte gerade die Habilitation mit Erfolg hinter mich gebracht. Zeitgleich mit der Überreichung der Venia legendi hatte man mir, dem frisch gebackenen Privatdozenten, die Funktion des Oberarztes auf der Intensivstation des Zentrums für Innere Medizin der Universität Ulm angetragen. Es war einer der (wenigen) erhebenden Momente im Leben eines Jungakademikers, in denen man das Gefühl hat, die ganze Welt stehe einem offen. Irgendwie ahnte man aber schon, dass einen der klinische Alltag bald einholen und mit Haut und Haaren verschlingen würde. Vorher wollte man sich noch umsehen in der schönen Welt der Pneumologie, sich fit machen für neue Aufgaben.

Wohin ging man damals in Deutschland, wenn man die letzten Trends in der Pneumologie, die neuesten Beatmungstechniken kennen lernen wollte?Wo spielte die Musik?

Ich entschied mich für Basel und Heckeshorn. Zuerst ging ich zu Heinrich Herzog und Roland Keller an das Baseler Kantonsspital, hauptsächlich um die ultramoderne Beatmungsstation, die RESP, in Funktion zu erleben. Dann ging es nach Berlin. Zwei volle Wochen durfte ich an der Seite von Hans-Jürgen Brandt – meist einen Schritt hinter ihm, dem stets eilig Voranschreitenden – die Visiten miterleben, an den Klinikkonferenzen teilnehmen und stundenlang über Gott und die Welt diskutieren.

Neue Strukturen
Warum Heckeshorn? Die Lungenklinik über dem Wannsee übte auf uns junge Pneumologen, die erste Generation der Posttuberkuloseära, eine starke Faszination aus. Heckeshorn hatte als erste Lungenklinik in Deutschland die Idee eines autarken Lungenzentrums verwirklicht. Alle medizinischen Fächer waren vertreten, neben der Pneumologie und Thoraxchirurgie auch die Pathologie, die Radiologie und die Nuklearmedizin, die Laborabteilung und die Pädiatrie. Die Pneumologie war noch einmal aufgeteilt, anfangs in die Innere Medizin und die Diagnostik, später dann in die Abteilungen Pneumologie I und II.

Aber damit nicht genug: alle Disziplinen durften selbstständig agieren mit dem erklärten Ziel, ihre Eigenverantwortlichkeit zu stärken und Initiativen zu fördern. Den Abteilungen wurden eigene Bettenstationen und Ambulanzen, Funktionsbereiche und Personalstellen zugewiesen.

Die Idee einer solchen Department-Struktur war in den 1960er-Jahren für die deutsche Medizin revolutionär, für uns „Jungtürken“ dagegen höchst attraktiv. Natürlich stieß die damit einhergehende Demokratisierung der Kliniken in den etablierten Führungsetagen auf entschiedenen Widerstand,nicht nur bei Ordinarien und Chefärzten, sondern auch bei der Klinikadministration und der Kultusbürokratie. Wir Jungen hatten die Vorteile des Department- Systems – vielfach auch aus persönlicher Erfahrung im Ausland – kennen gelernt, und wir kämpften dafür. Der Kampf war mühsam und oft frustrierend.

Umso mehr bestärkte uns das Modell Heckeshorn; hier war das alles schon Realität, das Department System war eingeführt und es funktionierte. Auch hatte man in kluger Voraussicht Instrumente geschaffen, um die Zusammenarbeit zwischen den verschiedenen Abteilungen zu verbessern. Zu den integrationsfördernden Maßnahmen gehörten die Rotation der Assistenzärzte in der Weiterbildung und die allwöchentlichen gemeinsamen Fortbildungsveranstaltungen. Das wichtigste Instrument aber war die legendäre Klinikkonferenz. Jedem, der je daran teilgenommen hat, wird sie unvergesslich bleiben. Während meiner Hospitation war es Hans-Jürgen Brandt, der die Besprechungen leitete – souverän, kompetent und geistreich. Alle Abteilungen waren vertreten. Der Stationsarzt stellte den Fall mit den Röntgenbildern vor, oft wurde der Patient persönlich dazu gebeten. Jeder, auch der jüngste Medizinalassistent, durfte mitdiskutieren und seinen Sachverstand einbringen. Um die Entscheidung wurde oft hart und lange gerungen. Schlussendlich entschied der Chefarzt, der die Konferenz leitete. Das Ergebnis wurde in einer knappen Epikrise schriftlich festgehalten, sodass es für jeden nachvollziehbar blieb.

Innovationen bei der klinischen Problemlösung Der Erfolg dieser strukturellen Neuerungen stellte sich in Heckeshorn rasch ein, die Qualität der medizinischen Versorgung stieg und der Ruf der Klinik wuchs. Die Lungenklinik Heckeshorn wurde zum Bannerträger des medizinischen Fortschritts in der Pneumologie, nicht nur in Deutschland. Schon in der turbulenten Gründungszeit unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg, als man alle Hände voll zu tun hatte mit der Bekämpfung der bedrohlich zunehmenden Tuberkulose, zeigte Heckeshorn nicht nur den erforderlichen Pragmatismus, sondern auch die nötige Weitsicht. Über das Tagesgeschehen hinausblickend hatte man erkannt, dass viele klinische Fragen nur mit wissenschaftlichen Methoden zu beantworten und manche Probleme nur mit kontrollierten Studien zu lösen waren, damals durchaus keine Selbstverständlichkeit!

Das fing bei scheinbar banalen Themen wie der Einnahme von Medikamenten an. Man konnte nachweisen, dass die Heilungsrate von Tuberkulosekranken unter kontrollierter Tabletteneinnahme deutlich höher war. Die Erkenntnis wurde von den Heckeshorner Klinikern, allen voran Ingeborg Schütz und Karl Ludwig Radenbach, zügig in die Praxis umgesetzt. Berlin erlebte die Premiere dessen, was heute von derWHO weltweit als Standard der Tuberkulosebehandlung propagiert wird: DOT= directly observed therapy, die Tabletteneinnahme unter Aufsicht.

Weltweites Renommee errang die Klinik in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts bei der Diagnostik von Erkrankungen der Pleura. Aus derTherapeutischen Thorakoskopie, die Jahrzehnte zuvor
von Jacobaeus in die Tuberkulosebehandlung eingeführt wordenwar, entwickelt man in Heckeshorn die Diagnostische Thorakoskopie. Die Perfektionierung dieser Methode und ihre breite klinische Anwendung verdankt die Pneumologie den „Heckeshorner Pleurologen“ Hans-Jürgen Brandt, Jutta Mai und Robert Loddenkemper. Ihr gleichnamiger Atlas gilt als das Standardwerk und steht – in englischer Übersetzung – heute weltweit in jeder pneumologischen Bibliothek. Die „Internistische Thorakoskopie“, wie sie heute auch genannt wird, hat in den letzten Jahren ihr chirurgisches Gegenstück in der videoassistierten chirurgischen Thorakoskopie, der „VATC“, gefunden. Auch hierbei hat Heckeshorn in Person von Dirk Kaiser wichtige Beiträge geleistet. Heckeshorn ist unbestritten das Mekka der Pleuradiagnostik.

Die erste Beatmungsstation in einer deutschen Lungenklinik stand in Heckeshorn, sie wurde 1977 eröffnet. Ihr Initiator und langjähriger Leiter war Hans-Jürgen Brandt. Er, der begnadete Kliniker und kreative Tüftler, war es auch, der in den Lungenfunktionslabors für frischen Wind sorgte und u. a. die Ergospirometrie als klinische Methode einführte. Darauf aufbauend entwickelte Robert Loddenkemper in Kombination mit der Perfusionsszintigrafie ein Standardverfahren zur funktionellen Beurteilung von Patienten vor einer Lungenresektion. Selbst Thoraxchirurgen und Anästhesisten bedienen sich bis heute dieses Konzeptes zur Identifizierung von Risikopatienten.

Schrittmacher in der klinischen Forschung Spätestens seit der Berufung von Karl Ludwig Radenbach wurde Heckeshorn mehr und mehr zum Schrittmacher in der klinischen Forschung in Deutschland. Der Name Radenbach stand in den 1960er- und 1970er-Jahren für moderne Forschungskonzepte. Die ersten Protokolle von randomisierten Studien zur Behandlung der Tuberkulose stammen aus seiner Feder, die ersten multizentrischen Studien gingen auf Initiativen von Heckeshorner Forschern zurück.

Auch die Gründung der WATL, der wissenschaftlichen Arbeitsgemeinschaft zur Therapie von Lungenkrankheiten, war eine Idee von Radenbach: ein von der Pharmaindustrie unabhängiges Instrument, das über Jahrzehnte die multidisziplinäre klinische Forschung, nicht nur in Deutschland, sondern auch in der Schweiz und Österreich geprägt hat.

Auch unter der Federführung des DZK, des Deutschen Zentralkomitees zur Bekämpfung der Tuberkulose, das in Heckeshorn beheimatet ist, wurde eine Reihe von epidemiologischen Studien konzipiert und erfolgreich durchgeführt. Die Besonderheit dieser Studien war die Einbeziehung von Ärzten aus dem Öffentlichen Gesundheitsdienst.

Nationale und internationale Kongresse So konnte es nicht ausbleiben, dass führende Vertreter der Lungenklinik Heckeshorn von der pneumologischen Gemeinschaft mit hohen Ämtern betraut wurden. Auf nationaler Ebene war es zunächst Karl Ludwig Radenbach, der 1979/80 Präsident der DGP, der Deutschen Gesellschaft für Pneumologie (und Tuberkulose, wie es damals noch hieß) war.

14 Jahre später übernahm Robert Loddenkemper das Ruder in der deutschen Pneumologie und brachte das vor sich hin dümpelnde Schiff DGP wieder auf Kurs. Dem Berliner DGP-Kongress 1994 drückte er seinen Stempel auf. Die Integration der Kollegen aus dem deutschen Osten fünf Jahre nach der Wiedervereinigung war zu großen Teilen sein Verdienst, ebenso wie die Öffnung der European Respiratory Society für die Kollegen aus Osteuropa auf der Berliner Jahrestagung dieser Gesellschaft, die erstmals 1997 unter Robert Loddenkempers und Hartmut Lodes Leitung in Deutschland tagte. Der große Erfolg dieser Berliner Tagung trug zur Anerkennung der deutschen Pneumologie und deutscher Pneumologen in Europa und den USA ganz wesentlich bei. Ausdruck dieser Hochschätzung war die Austragung von zwei weiteren ERSKongressen in Deutschland (im Jahr 2001 erneut in Berlin und 2006 in München) und dieWahl von Robert Loddenkemper zum Präsidenten der European Respiratory Society im Jahr 1999.

Neue Wege in der Fort- undWeiterbildung
Auch in der Weiter- und Fortbildung hat die Lungenklinik Heckeshorn neue Pfade beschritten. Eine der originellsten Ideen war der Austausch von Assistenzärzten zwischen der Klinik Heckeshorn und anderen, befreundeten Lungenkliniken. Dabei übernahm der rotierende Assistenzarzt nicht nur die volle Funktion des Kollegen der anderen Klinik, also z. B. die Stationsarztfunktion, sondern auch dessen soziales Umfeld. Dazu zählten das Auto des Kollegen ebenso wie seineWohnung, Ehefrauen waren von dieser Regelung ausgenommen. Berlin auf der einen Seite, Kopenhagen, Essen und Barmelweid auf der anderen Seite waren die Partner. Viele neue Eindrücke konnte man in der Gastklinik erhalten, viele Einsichten gewinnen und viele Freundschaften schließen.

Eine andere Möglichkeit, sich den reichen Erfahrungsschatz von Heckeshorn zueigen zu machen, war und ist die Hospitation. Unzählige Ärzte verschiedenster Fachrichtung haben diese Möglichkeit genutzt, ich gehöre dazu. Ein mehrtägiger, gar mehrwöchiger Aufenthalt als Gastarzt in der Lungenklinik Heckeshorn bleibt für jeden, dem dieses Privileg zuteil wird, ein unvergessliches Erlebnis. Man genießt die traditionelle Gastfreundschaft und Kollegialität von Heckeshorn, hat den nötigen Abstand vom Klinikalltag und genügend Muße, nachzufragen und nachzulesen, wird aber doch in den klinischen Alltag mit einbezogen: Man darf in Heckeshorn selbst Hand anlegen, beiendoskopischen Techniken ein unschätzbarer Gewinn.

Epilog
Mit einer kleinen Episode, die ich bei meiner Hospitation in Heckeshorn erlebte, will ich diesen Beitrag beschließen. Prof. Brandt hatte mich in die Kunst der Thorakoskopie eingewiesen, ich assistierte ihm anfangs bei mehreren Eingriffen. Am vierten Tag durfte ich selbst Hand anlegen und bei einer älteren Dame mit unklarem rechtsseitigen Pleuraerguss thorakoskopieren. Hans-Jürgen Brandt hatte sich wohl überzeugt, dass ich die Technik hinreichend beherrschte, denn er ließ mich nach einer Weile mit der alten Dame und dem Thorakoskop allein (für eine kurze Zigarettenpause?). Ich kam mit der Untersuchung leidlich voran, doch plötzlich „verirrte ich mich in der Anatomie“.Ich bat die assistierende Schwester, Prof. Brandt zu holen. Irgendwie hatte die Patientin wohl meine Probleme mitbekommen, denn sie drehte plötzlich ihren Kopf, der hinter dem grünen Tuch verborgen war, in meine Richtung und fragte – nur mit der linken Lunge atmend – mit freundlicher Stimme: „Kann ich Ihnen behilflich sein, Herr Doktor?“

Diese kleine Episode zeigte mir zum Einen, wie wenig belastend eine Thorakoskopie in Lokalanästhesie, auch für ältere Menschen, sein kann. Ich habe bei dieser Gelegenheit aber auch verstanden, was das Prinzip Heckeshorn bedeutet, was die Attraktion der Lungenklinik Heckeshorn für die Pneumologie ausmacht. In erster Linie sind es natürlich ihre überragende fachliche Expertise, ihre stete Innovationsfähigkeit und die zahlreichenprominenten „Köpfe“, die hier heranwachsen undreifen. Es gehört dazu aber auch ein spezifischer Heckeshorn-Stil, der sich auszeichnet durch offenen, höflichen Umgang miteinander, wechselseitige Hochschätzung und gegenseitiges Vertrauen. Auch gilt es, zwei traditionelle Heckeshorner Tugendenzu rühmen, die diesen Heckeshorn-Stil auszeichnen, die Gastfreundschaft und dieKollegialität.

Nun denn, herzlichen Dank für alles, was Heckeshorn für die Pneumologie getan hat! Möge die Lungenklinik Heckeshorn auch unter veränderten äußeren Bedingungen weiter blühen und gedeihen: Die Pneumologie und wir Pneumologen brauchen sie.


60 Jahre Lungenklinik Heckeshorn Der Artikel ist dem vorliegenden Band zum 60-jährigen Jubiläum der Klinik entnommen. Dieser versammelt zahlreiche Beiträge zu der Entwicklung der einzelnen Abteilungen und Funktionsbereiche, Porträts zentraler Persönlichkeiten sowie Geschichten aus dem Klinikleben und dokumentiert zugleich die vielfältige Vernetzung der Lungenklinik Heckeshorn in der internationalen "Szene" der Pneumologie und Thoraxchirurgie.


 

DOI: 10.1055/b-002-19465
Seehausen, Vera; Bauer, Torsten T.; Kaiser, Dirk; et al.: 2007
Von der Phthisiologie zur Pneumologie und Thoraxchirurgie 60 Jahre Lungenklinik Heckeshorn
Print ISBN 9783131346513
Online ISBN 9783131864611